19.08.2011
19.08.2011

Kinderbetreuung

Erziehermangel bremst Ausbau der Krippenplätze

In deutschen Kinderkrippen fehlt es an Erziehern - fast 25.000 Stellen werden im Jahr 2013 unbesetzt sein. Das ergibt eine Studie des Deutschen Jugendinstituts. Danach ist sogar die gesetzliche Krippenplatz-Garantie gefährdet, die vom 1. Juli 2013 an gilt.

Von Uta Rasche

Ein Betreuer für eine Handvoll Kinder - so luxuriös wie in dieser Kinderkrippe im Frankfurter Bankenviertel geht es vor allem auf dem Land nicht zu 

 

Ein Betreuer für eine Handvoll Kinder - so luxuriös wie in dieser Kinderkrippe im Frankfurter Bankenviertel geht es vor allem auf dem Land nicht zu

 

Im Jahr 2013 werden in Westdeutschland voraussichtlich etwa 24.700 Erzieherstellen nicht besetzt sein. Das hat das Deutsche Jugendinstitut (DJI) in München errechnet - und zwar unter der Annahme, dass dann im Bundesdurchschnitt für 39 Prozent der Kinder zwischen ein und drei Jahren ein Betreuungsplatz zur Verfügung stehen soll. Der sich abzeichnende Personalmangel gefährdet die gesetzliche Krippenplatz-Garantie, die vom 1. Juli 2013 an gilt. Von diesem Datum an haben alle Eltern eines Kindes, das älter ist als ein Jahr, einen Rechtsanspruch auf Betreuung ihres Nachwuchses. Derzeit sieht es so aus, als sei die Einlösung dieses Anspruchs keinesfalls garantiert. Denn nach Einschätzung sowohl von Wissenschaftlern und Kindergartenträgern als auch der kommunalen Spitzenverbände fehlen dazu in erheblichem Umfang Erzieher und Tagesmütter.

In Ostdeutschland geht man dabei von einer Betreuungsquote von 51 Prozent der Kinder dieser Altersgruppe aus, im Westen von 37 Prozent.

 

Insbesondere in westdeutschen Flächenländern wird Mangel herrschen: So werden nach der DJI-Prognose in Nordrhein-Westfalen fast 7000, in Niedersachsen mehr als 5000 und in Hessen etwa 3500 Fachkräfte fehlen. In Ostdeutschland werden voraussichtlich keine zusätzlichen Erzieherinnen benötigt. Da Erzieherinnen aufgrund ihres geringen Verdienstes selten Hauptverdiener ihrer Familie sind und deshalb oft nicht mobil sind, lassen sich regionale Über- und Unterkapazitäten kaum ausgleichen. Auch Tagesmütter, die beim Ausbau der Kleinkinderbetreuung ein Drittel der Plätze anbieten sollen, fehlen.

Kinderbetreuung: Erziehermangel bremst Ausbau der Krippenplätze
© F.A.Z.

„Viel zu spät“, sagte DJI-Direktor Thomas Rauschenbach, „ist über das Personal als begrenzenden Faktor nachgedacht worden - Investitionen in die Gebäude alleine reichen nicht.“ Josef Hecken, Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, äußerte hingegen: „Der Bund erfüllt die beim Krippengipfel vereinbarte Betreuungsquote bis zur dritten Nachkommastelle.“ Den zusätzlichen Bedarf an Erzieherinnen, den auch er auf etwa 24.000 beziffert, hält er angesichts von 400.000 in diesem Berufsfeld Tätigen für „eine zu bewältigende Größenordnung“.

 

Bei der Behebung des Personalmangels sieht das Bundesfamilienministerium insbesondere die Länder in der Pflicht. Genau diese Haltung kritisiert Stefan Sell, Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik an der Fachhochschule Koblenz: „Bisher schieben sich Bund, Länder und Kommunen die Verantwortung für den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz gegenseitig zu. Aber eigentlich verlangt der Rechtsanspruch nach einem national koordinierten Vorgehen.“

„Fehlende Tagesmütter sind die Achillesferse“

Sell ist der Ansicht, dass der Mangel an Betreuungspersonen weitaus größer ist als vom DJI angenommen. Insbesondere die Annahme, dass ein Drittel der Plätze bei Tagesmüttern entstehen könnte, hält er für unrealistisch: „Die fehlenden Tagesmütter sind die Achillesferse des Ausbaus der Kleinkinderbetreuung.“ Der Beruf der Tagesmutter ist schlechter bezahlt als der der Erzieherin und nach Änderungen der steuerlichen Regelungen noch unattraktiver geworden. Etwa 38.000 Tagesmütter gibt es bisher in Deutschland, etwa 32.000 Tagespflegepersonen müssten bis 2013 noch gewonnen werden, um das Ausbauziel zu erreichen. Auch der Zusatzbedarf an Erziehern, der durch den Ausbau der Nachmittagsbetreuung an Schulen entsteht, ist noch nicht eingerechnet. „Die Länder stecken den Kopf in den Sand angesichts des sich abzeichnenden Mangels an Betreuungspersonal“, sagt Sell. „Sie steuern ihr Schiff im Nebel.“

Bund und Länder hatten im Kinderförderungsgesetz (KiFöG) aus dem Jahr 2008 eine Betreuungsquote von 35 Prozent der unter Dreijährigen vereinbart, die bis 2013 erreicht sein sollte - das wären insgesamt etwa 750.000 Plätze für Krippenkinder. Doch es zeichnet sich ab, dass diese Quote nicht ausreichen wird, um die Betreuungswünsche der Eltern zu erfüllen. In Universitätsstädten liegt die Betreuungsquote der unter Dreijährigen schon jetzt bei mehr als der Hälfte. In einer vom Deutschen Städte- und Gemeindebund in Auftrag gegebenen Forsa-Umfrage sagten 66 Prozent der Frauen zwischen 18 und 40 Jahren, sie wollten ihr Kleinkind außer Haus betreuen lassen. Zuletzt hat die Bundesregierung den Bedarf auf 39 Prozent der Ein- bis Dreijährigen im Bundesdurchschnitt nach oben korrigiert; Ende des Jahres soll nach den Worten des DJI-Direktors Rauschenbach eine weitere Elternbefragung folgen.

 

Familienministerium wirbt um männliche Erzieher

Das Bundesfamilienministerium agiert bisher eher punktuell gegen den Erziehermangel: Es hat für die Sprachförderung in 4000 Brennpunkt-Kitas mit 400 Millionen Euro je eine halbe Stelle zusätzlich geschaffen. Es wirbt um „Mehr Männer in die Kitas“ und plant zusammen mit den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege eine Kampagne für die Mangel-Berufe Erzieher und Altenpfleger, die Anfang 2012 starten soll. Das Bundesforschungsministerium hat für die „Weiterbildungsinitiative frühpädagogische Fachkräfte“ 180 Millionen Euro bereit gestellt.

Wenn Eltern eines ein- bis dreijährigen Kindes zum August 2013 keinen Krippenplatz finden, können sie ihre Kommune verklagen. An die Bundesregierung könnte dann vor der Bundestagswahl im Herbst der politische Vorwurf gerichtet werden, dass sie ein Versprechen der früheren Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) nicht einlöse.

 

Die Zahl der Plätze für die Kleinkinderbetreuung ist in den vergangenen vier Jahren zwar um 185.000 auf 472.000 gestiegen. Das bedeutet aber auch, dass bis zum Ausbau-Ziel von 750.000 Plätzen mindestens noch 280.000 Plätze fehlen.

Auch die Kommunen klagen über Probleme. „Der Erziehermangel ist schon jetzt in manchen Regionen ein großes Problem. Angesichts des Krippen-Ausbaus wird es sich noch verschärfen“, sagt Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Großstädte müssen sich anstrengen, Personal zu gewinnen. München etwa organisiert „Schnupperwochenenden“ für Erzieherinnen von außerhalb. Die Stadt bietet ihnen günstigen Wohnraum für acht bis neun Euro Miete den Quadratmeter an, zahlt eine München-Zulage von gut 100 Euro brutto sowie einen Zuschuss zum Jobticket. Darüber hinaus hat die Stadt die Ausbildungskapazitäten erhöht und bildet auch examinierte Grundschullehrerinnen, die keine Stelle im Schuldienst gefunden haben, in einem praxisorientierten Kurs zu Erzieherinnen aus. Schon wird Kritik laut, dass die bayerische Landeshauptstadt Erzieherinnen aus dem Umland abwerbe.

 

Frankfurt kann 100 Stellen nicht besetzen

Die Stadt Frankfurt, Träger von 140 Kitas, kann von 1600 Stellen etwa 100 Stellen derzeit nicht besetzen. Die Stadt hat eine Kampagne zur Personalgewinnung gestartet und bietet Schulen eine Unterrichtsreihe an, die über pädagogische und soziale Berufe informiert und einen wöchentlichen Praktikumstag beinhaltet. Die Frankfurter Berta-Jourdan-Schule, eine Fachschule für Sozialpädagogik, hat angesichts des drohenden Personal-Engpasses ihre Jahrgänge auf 300 Schüler verdoppelt. Die Stadt Frankfurt hat den Lohn der Erzieherinnen um zwei Gehaltsstufen erhöht - was beim Berufseinstieg allerdings nur einen Sprung von 2077 Euro auf 2179 Euro brutto bedeutet; später wird die Differenz größer. „Die Arbeit in einer Großstadt-Kita stellt eine große Herausforderung dar“, sagt die Leiterin Kita-Eigenbetriebe der Stadt Frankfurt zur Begründung.

Tatsächlich sind in den vergangenen Jahren die Anforderungen an den Beruf der Erzieherin gestiegen. „Wir verlangen viel von den Erzieherinnen: mehr Sprachförderung, mehr Bildung, mehr Gesundheitserziehung“, sagt Stephan Articus, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages. Er fordert daher eine Aufwertung des Berufes. Um das Krippenausbau-Ziel zu erreichen, fordert Articus ein größeres Engagement der Länder: „Ohne deutlich größere finanzielle Anstrengungen der Länder wird es bis 2013 nicht gelingen, den Rechtsanspruch umzusetzen.“Rund sechs Milliarden Euro an Investitionskosten seien noch nicht finanziert.

In Nordrhein-Westfalen haben die Kommunen im vergangenen Jahr mit einer Verfassungsklage klarstellen können, dass nach dem Konnexitätsprinzip das Land die vollen Kosten für den Ausbau der Betreuung bis zum Jahr 2013 tragen muss. „Die Länder haben im Bundesrat den Ausbau mitbeschlossen und müssen nun dafür auch gerade stehen“, sagt Articus.

 

Werden die Öffnungszeiten für Kitas verlängert?

Der Bildungs- und Arbeitsmarktforscher Sell prognostiziert einen weit höheren Personalmangel als das DJI. Am Beispiel Rheinland-Pfalz rechnet er mit bis zu 14.000 fehlenden Erzieherinnen im Jahr 2013 - das DJI dagegen mit „nur“ 1700. Dafür geht Sell allerdings davon aus, dass der Personalschlüssel leicht verbessert wird, also jede Erzieherin für weniger Kinder zuständig ist. Auch rechnet er ein, dass die Öffnungszeiten der Kitas an den Randzeiten verlängert werden, wie es Arbeitgeber fordern, und dass das Personal Zeit für die Vor- und Nachbereitung erhält.

Sell hat die Berufsbiographien von Erzieherinnen untersucht und festgestellt, dass die Träger selbst eine Menge tun könnten, um ihr Personal zu halten: Ein Fünftel der Erzieherinnen wandert schon in den ersten Jahren in andere Berufszweige ab. „Man muss ihnen unbefristete Vollzeit-Stellen anbieten, sonst orientieren sie sich um“, sagt Sell. Auch fordert er Programme für Seiteneinsteiger und Wiedereinsteigerinnen nach der Familienphase. „Wenn nicht auf all diesen Ebenen zeitnah Erfolge zu verzeichnen sind,“ sagt Norbert Struck, Jugendhilfereferent des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, „wird das Problem des Fachkräftemangels in Kitas schon bald zu heftigen Verwerfungen führen.“

 

Text: F.A.Z.
Bildmaterial: F.A.Z., F.A.Z. - Wolfgang Eilmes