FAZ vom 09.02.2013 

Betriebskitas: Ein Herz für Kinder

 

Deutschlands Unternehmen werden familienfreundlicher.

Sie richten Betriebskitas ein und zahlen die Notfallbetreuung. Dahinter steckt nicht nur Nächstenliebe, sondern auch Kalkül.

Von Christoph Schäfer

 

© Seuffert, FelixKindergrippe „Sternchen“ der Daimler AG: Wenn Mama und Papa den Nachwuchs in guten Händen wissen, verbringen sie mehr Zeit im Unternehmen.
 

Deutschland ist ein kinderfeindliches Land. Hieß es zumindest vor 14 Tagen, nachdem in einer Umfrage nicht mal jeder siebte Deutsche seiner Heimat gute Bedingungen für Kinder attestiert hatte. Von „Deutschlands gescheiterter Familienpolitik“ ist die Rede. Zeitungen kritisieren, mahnen, verteufeln. Die Lebensbedingungen für Familien sind ein heißes Eisen geworden.

Eines aber geht in der allgemeinen Erregung seit Jahren unter: In Deutschlands Betrieben tut sich etwas.

Weitgehend unbemerkt von der Medienöffentlichkeit hat in den Unternehmen ein Bewusstseinswandel eingesetzt. Nicht ohne Eigennutz entdecken Firmenchefs und Personalverantwortliche ihr Herz für die Kinder der Mitarbeiter. Sie richten Betriebskindergärten ein oder buchen sogenannte Belegplätze bei einem heimischen Träger. Einige zahlen ihren Angestellten eine Notfallbetreuung. Andere erlauben es, dass der Nachwuchs gleich mit in die Firma kommt.

 

Beispiel Siemens. Europas größter Elektrokonzern ist nach eigener Aussage das Unternehmen mit den meisten Betriebskitas in Deutschland. Schon 1100 Krippenplätze haben die Münchner an 21 Standorten geschaffen - und bauen schnell weiter. In den nächsten drei Jahren wollen sie ihre Kapazität auf 2000 Plätze fast verdoppeln. 40 Millionen Euro lässt sich der Konzern das kosten.

 

Betreuungsplätze bei fast alles Dax-Konzernen

Beispiel Commerzbank. Das Kreditinstitut hat schon 260 Betreuungsplätze. In diesem und dem nächsten Jahr sollen weitere 80 hinzukommen. Seit eineinhalb Jahren bietet die Bank ihren Angestellten zusätzlich einen Hort mit 80 Plätzen, in dem diese ihre Schulkinder nach Unterrichtsende bis 19 Uhr betreuen lassen können. Außerdem gibt es eine großzügige Notfallhilfe. Falls die reguläre Betreuung unerwartet ausfällt, werden die Kinder der Mitarbeiter stunden-, tage- und zur Not auch wochenweise betreut. Von 6 bis 22 Uhr, bei Bedarf auch am Wochenende. Bis zu 25 Tage. Alles ist kostenlos.

 

Die beiden Großkonzerne sind bei weitem nicht die einzigen, die sich der Kinder ihrer Mitarbeiter annehmen. Fast alle Dax-Konzerne halten Betreuungsplätze vor, knapp die Hälfte baut gerade neue oder kauft weitere ein. Im März 2012 - das ist das jüngste verfügbare Erhebungsdatum - gab es nach Angaben des Statistischen Bundesamts 586 Betriebskitas in Deutschland. Das sind zwar nur etwas mehr als 1 Prozent aller Einrichtungen im Land, aber die Trendkurve zeigt aufwärts: Vier Jahre zuvor gab es lediglich 369 dieser Kitas. Entscheidender ist ohnehin die Zahl der Belegplätze.

„Gerade kleine und mittlere Unternehmen buchen diese Plätze, weil sie sich keine eigene Betriebskita leisten können“, sagt Stefan Spieker, Geschäftsführer der Fröbel-Gruppe. Er muss es wissen: Sein Trägerverein betreut mehr als 10000 Kinder und betreibt in ganz Deutschland 125 Standorte. Dem Geschäftsführer zufolge kostet es rund 25000 Euro, einen neuen Platz einzurichten. Wer eine mittelgroße Kita mit 60 Plätzen bauen will, muss also erst einmal 1,5 Millionen Euro finanzieren können. Hinzu kommen die laufenden Kosten. Da ein Kitaplatz in vielen Fällen nur am Wohnort des Kindes, nicht aber am Standort des Betriebs staatlich bezuschusst wird, müssen zahlreiche Unternehmen ihre Kitas zudem ohne staatliche Subventionen bauen und betreiben.

 

Wettbewerbsvorteil durch Kinderbetreuung

Jenseits der hohen Investitions- und Fixkosten haben Belegplätze für Unternehmen zwei weitere Vorteile. „Erstens können sie sich weiter auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, zweitens mit dem Finger auf den Träger zeigen, wenn einem Kind etwas passiert“, sagt Oliver Wirfs, der zwei Kitas im Rhein-Main-Gebiet betreibt. Knapp ein Drittel seiner 120 Plätze werden von Unternehmen gezahlt oder bezuschusst. Die Tendenz ist stark steigend. „Wir haben regelmäßig Anrufe von Personalverantwortlichen, die händeringend nach Belegplätzen für ihre Mitarbeiter suchen“, sagt Wirfs. Manches Unternehmen, so ist in der Branche zu hören, wendet allein für dieses Belegrecht viel Geld auf. Einen Platz für fünf Jahre zu reservieren, kann in Ballungszentren schnell mehr als 5000 Euro kosten. Die regulären Gebühren, die je nach Modell vollständig oder teilweise von den Arbeitgebern getragen werden, kommen hinzu.

 

Warum aber nehmen Unternehmen diese Kosten auf sich? Nächstenliebe mag ein Grund sein. Ganz sicher aber steckt dahinter auch viel Kalkül. In Zeiten des Fachkräftemangels müssen sich die Betriebe etwas einfallen lassen, um den Kampf um die besten Köpfe zu gewinnen. Nach Angaben der Bundesregierung wird Deutschland in 15 Jahren voraussichtlich 6,5 Millionen Erwerbstätige weniger haben. Was der damalige Kanzler Gerhard Schröder 1998 noch als „Gedöns“ abtat, ist angesichts dieser Aussicht zum handfesten Wettbewerbsvorteil avanciert.

In einer Studie des Bundesfamilienministeriums gaben vor zweieinhalb Jahren drei Viertel der Eltern bis 39 Jahren an, sie würden für mehr Familienfreundlichkeit den Arbeitgeber wechseln. Sagenhafte 90 Prozent der Beschäftigten erklärten, Familienfreundlichkeit sei für sie „ebenso wichtig oder wichtiger als das Gehalt“. Selbst in männerdominierten Bastionen wie dem Handwerk bricht sich die Erkenntnis Bahn. „Es geht nicht mehr um den dicken Dienstwagen, sondern um Zeit für Verantwortung“, konstatierte der Präsident des Deutschen Handwerksverbands, Otto Kentzler. Die Betriebe erlebten „gerade bei jüngeren Eltern einen Wertewandel, dem wir gerecht werden wollen“.

 

Flexible Arbeitszeitmodelle als Hilfe

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt und die Industrieverbände sehen dennoch in erster Linie den Staat in der Pflicht. „Gerade weil Arbeitskräfte zunehmend knapp sind, ist es naheliegend, die noch nicht Vollzeitbeschäftigten zu motivieren, länger zu arbeiten. Diese Überzeugungsversuche scheitern jedoch viel zu oft an einer fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkeit“, sagte er Anfang 2012. Entscheidend sei daher, „dass Länder und Kommunen jetzt endlich ihrer Verpflichtung nachkommen, ein ausreichendes Kinderbetreuungsangebot zu schaffen.“

Theoretisch haben alle Eltern, deren Kind älter als zwölf Monate ist, ab August einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. In der Praxis nutzt das vielen nichts. Nach Angaben des Städte- und Gemeindebundes fehlen nach wie vor 150000 Kitaplätze, um das Versprechen einzulösen. Der Engpass zwingt die Unternehmen, das Heft selbst in die Hand zu nehmen.

 

Im aktuellen Unternehmensbarometer der Industrie- und Handelskammern gab jedes zweite befragte Unternehmen an, seine Angestellten in der Kinderbetreuung zu unterstützen. Jedes dritte Unternehmen habe oder plane eine eigene Kita oder Belegplätze. Unter den Firmen mit mehr als 1000 Mitarbeitern ist es mehr als die Hälfte. Besonders fortschrittliche Unternehmen öffnen ihr Herz und Portemonnaie noch viel weiter. Im Rennen um qualifizierte Mitarbeiter scheinen der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Der Bosch-Konzern etwa bietet nach eigenen Angaben rund 100 verschiedene Arbeitszeitmodelle an, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erhöhen. Jede vierte weibliche Führungskraft arbeitet in Teilzeit. Angestellte, die teilweise oder vollständig zu Hause bleiben, um auf ihre Kinder aufzupassen, erhalten diese Zeit sogar als „Karrierebaustein“ angerechnet, der bei der nächsten Beförderung hilft. „Elternzeit ist bei uns kein Karrierekiller, sie wird vielmehr genauso wertgeschätzt wie ein Auslandsaufenthalt“, sagt Bosch-Sprecher Sven Kahn.

 

Schnelle Rückkehr in den Job erwünscht

Natürlich gibt es auch Grenzen: Erreichbarkeit am frühen Morgen und späten Abend ist in einem internationalen Arbeitsumfeld nicht zu vermeiden. Wer auf Montage arbeitet, kann sich abends nicht um sein Kind kümmern. Teure Maschinen werden nachts nicht angehalten, weil irgendwo ein Kind schreit.

Gerade Betriebe in der Provinz wollen ihren Angestellten trotzdem entgegenkommen. Der sächsische Telekommunikationsanbieter Komsa setzt auf ein familienfreundliches Umfeld, um Mitarbeiter nach Hartmannsdorf in der Nähe von Chemnitz zu locken. „Wir sind hier ja nicht am Nabel der Welt“, räumt Sprecherin Katja Förster ein. 20 Prozent der Mitarbeiter können von zu Hause aus arbeiten, die Arbeitszeit darf relativ frei eingeteilt werden. Die werkseigene Kita mit 70 Plätzen gibt es ohnehin. Komsa setzt 750 Millionen Euro im Jahr um, das Durchschnittsalter der Belegschaft beträgt 34 Jahre.

Unumwunden gibt der Konzern zu, dass es „in unserer schnelllebigen Branche entscheidend ist, dass die Mitarbeiter aus der Elternzeit zügig wiederkommen“. Beispielsweise im Vertrieb, wo die Handymodelle ständig wechseln. Je länger ein Verkäufer sich ausschließlich um sein Kind kümmere, desto teurer müsse er später fortgebildet werden.

Aus dem gleichen Grund zahlt Siemens allen Eltern, die innerhalb der ersten 14 Monate nach der Geburt ihres Kindes aus der Elternzeit zurückkehren, einen Betreuungszuschuss von bis zu 500 Euro pro Kind und Monat. „Damit das Know-How nicht verloren geht“, heißt es.

 

Einsatz des Kapitals rechnet sich

In einer hausinternen Studie stellte die Commerzbank vor ein paar Jahren Kosten und Nutzen ihrer Familienmaßnahmen gegenüber. Betriebswirte quantifizierten den gesunkenen Fortbildungsaufwand und stellten fest, dass sich die familienbedingten Fehlzeiten im Jahr um durchschnittlich 4,5 Tage pro Familie reduziert hatten. Positiv vermerkten sie auch, dass Eltern mehr Zeit im Unternehmen verbringen, wenn sie ihren Nachwuchs in guten Händen wissen. Nicht zuletzt sank die Fluktuation, und damit wurden auch die Kosten geringer, einen neuen Mitarbeiter zu rekrutieren und einzuarbeiten. Am Ende ermittelte das Kreditinstitut, dass sich das eingesetzte Kapital mit 23 Prozent rentiert.

 

Hinter der neuen Freundlichkeit zu den „Turbienchen“ (Siemens), den „Sternchen“ (Daimler) und „blauen Zwergen“ (Allianz) steckt eben nicht nur Warmherzigkeit, sondern auch Berechnung. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, in welchen Wirtschaftszweigen keine Betriebskitas gegründet werden. „Die deutschen Unternehmen werden familienfreundlicher, aber es kommt auch sehr darauf an, ob in der Branche die Mitarbeiter knapp sind“, berichtet Kita-Betreiber Spieker. Krankenhausbetreiber etwa machten richtig Druck. „Call-Center hingegen rufen nicht an.“